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Zuhause in der Fremde

Eine ukrainische Schülerin erzählt von ihrer Flucht vor dem Krieg und ihrem neuen Alltag.

Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine sind Millionen Menschen auf der Flucht und suchen Schutz in anderen Ländern, unter anderem in Deutschland.  Polina (16) wohnt deshalb seit März im Ruhrgebiet.

Es ist ein sonniger Samstagmorgen im Park. Außer Hundebesitzern und Eltern sind noch nicht viele Menschen unterwegs. Polina hat sich schon eine Bank im Schatten ausgesucht und lächelt offen. Sie ist eine kluge und selbstbewusste junge Frau – mit einer traurigen Geschichte. Ihre Familie kommt aus Charkiw, eine der östlichsten Städte in der Ukraine.

Deshalb entscheiden sie sich nach Ausbruch des Krieges früh, Richtung Westen zu fliehen, zuerst nach Kowel, eine ukrainische Stadt nahe der polnischen Grenze. Für die Strecke von knapp 1.000 Kilometern brauchen sie sechs Tage mit dem Auto. Die Straßen sind völlig überlaufen, weil sehr viele Menschen auf der Flucht sind. »Einmal standen wir zwölf Stunden lang im Stau. Wir haben gewartet und gewartet.« Polina ist zu diesem Zeitpunkt noch mit ihrer ganzen Familie zusammen: Ihre Mutter und Großmutter, ihre jüngere Schwester und die zwei älteren Brüder. Außerdem kommt ihre Tante mit Familie mit.

 

Trennungsschmerz

In Kowel angekommen, merken sie schnell, dass es für sie dort keine Perspektive gibt. Der Krieg macht auch hier nicht Halt, außerdem gibt es keine Schulen für sie. Sie beschließen, die Ukraine zu verlassen und nach Deutschland zu gehen, wo sie Verwandte haben. Keine leichte Entscheidung – denn Polinas Brüder sind volljährig und dürfen das Land nicht verlassen. Stattdessen reisen die beiden zurück nach Charkiw. »Meine Mutter hat große Angst um sie«, berichtet Polina und wirkt dabei sehr gefasst. »Wir telefonieren oft und sie sagen immer, dass alles gut ist. Aber das ist es natürlich nicht. Ich vermisse sie sehr.«

 

Gottes Plan

Polina lebt seit Anfang März in einer Wohnung in Witten mit ihrer Schwester, Mutter und Großmutter, ganz in der Nähe des Parks. »Ich mag Deutschland, weil es hier sicher ist«, diesen Satz wiederholt sie mehrmals im Gespräch. »Die Ukraine ist meine Heimat, aber gerade bin ich heimatlos. Ich kann jetzt nicht zurück. Und vielleicht auch in Zukunft nicht.« Deshalb ist sie dankbar, im fremden Deutschland ein bisschen Heimat zu erleben: Durch ihre Kirche, von der viele Mitglieder auch in Witten untergekommen sind. »Ich bin mir sicher, dass das Gottes Plan war«, meint Polina. Denn jetzt geht die Hälfte ihrer Charkiwer Kirche auch in Deutschland in dieselbe Gemeinde – eine russlanddeutsche Baptistengemeinde. Das ist eine große Hilfe, da Russisch in vielen ukrainischen Regionen Amtssprache ist. Auch in der Jugendgruppe fühlt Polina sich angekommen: »Wir verbringen viel Zeit miteinander, machen Sport und treffen uns oft.«

 

Geteiltes Leid

Seit Ende April kann Polina auch zur Schule gehen. In die erste internationale Klasse eines Berufskollegs. »In meiner Klasse sind nur Leute aus der Ukraine und noch zwei aus Kasachstan«, erzählt sie begeistert. »Das ist sehr schön, weil es wie ein Teil deines Landes in einem anderen Land ist.« Generell ist der Patriotismus unter den Ukrainerinnen und Ukrainern seit Ausbruch des Krieges gestiegen, meint Polina. »Wir haben angefangen, unsere Sprache mehr zu lieben, unsere Flagge, unsere Lieder. Wir sind stolz auf unsere Nationalität und unser Land.« In ihrer Klasse findet sie Gleichgesinnte und kann sich mit ihnen frei über alles austauschen, weil sie genau nachempfinden können, was Polina durchlebt.

 

Übersetzerin to be

Vom Unterricht ist sie bisher nicht begeistert, dauernd fallen Stunden aus und der Stoff ist Polina auch zu leicht. Dabei sprechen die Lehrer Deutsch, eine Sprache, die Polina gerade erst lernt. Doch der Deutschunterricht nach der Schule hilft ihr, immer mehr zu verstehen. Sogar so viel, dass sie zu einer Übersetzerin für ihre Klassenkameraden geworden ist. Sie switcht zwischen Englisch, Deutsch, Ukrainisch und Russisch hin und her, bis ihr Kopf ganz schwer wird. »Ich will später mal Übersetzerin werden, deutsch-englisch«, berichtet sie stolz von ihren Plänen. Dafür will sie unbedingt Abitur machen und noch besser werden. Deshalb wechselt sie nach den Sommerferien auf ein Gymnasium.

 

Verlorene Heimat

Auf die Frage nach ihren Zukunftsplänen kann Polina keine klare Antwort geben: »In der Ukraine haben wir Pläne gemacht, dann ist der Krieg ausgebrochen und alle Pläne sind zerplatzt. Ich will auf jeden Fall in die Ukraine zurück, aber ich weiß auch, dass das Land, das ich verlassen habe, jetzt komplett anders ist. Es ist nicht mehr die Ukraine, die ich kenne, nicht mehr mein Zuhause.« Trotzdem blickt sie zuversichtlich nach vorne: auf die Möglichkeiten, die sich für sie und ihre Familie in Deutschland ergeben und die es wert sind, ein paar Jahre hierzubleiben. Und auf die Dinge, die ihr in der Fremde ein Gefühl von Sicherheit geben.

Text_Linda Hornischer ist inspiriert von Polinas Optimismus und Gottvertrauen.